Radeln bildet. So lernten wir bei unserem Ausflug nach Frankreich das legendenumwobene Okzitanien kennen, eine historische Kultur- und Sprachregion, die sie fast über den gesamten Süden Frankreichs erstreckt. Neben der offiziellen Landessprache wird dort okzitanisch gesprochen – im Mittelalter die Sprache der Troubadour-Kultur. Dass okzitanische Sprache und Kultur auch jenseits der französischen Grenze in Spanien und Italien in Ehren gehalten werden, belegen Ortsnamen wie “Oulx”, eine rund 3.200 Einwohner zählende Gemeinde – nein, nicht wie der Name vermuten ließe in Frankreich, sondern in der italienischen Region Piemont.
Am kleinen Bahnhof von Oulx startete unsere Tour, die uns bei schönstem Sommerwetter durch die herrliche Landschaft des italienisch-französischen Grenzgebietes führen sollte – übrigens ebenso wie einen Tag später die Profis der Vuelta, die dann auch von Oulx hinauf zum Col de Montgenèvre gedüst sind.
Wesentlich gemächlicher als bei der Vuelta schoben wir uns hoch zum Col de l’Echelle. Zunächst ging es dabei von Oulx auf einer gut ausgebauten Straße bis nach Bardonecchia, wo der eigentliche Anstieg zum Col de l’Echelle begann. Nach 7,5 Kilometern und 477 Höhenmetern waren wir oben und hatten auch die italienisch-französiche Grenze überquert. Um uns erstreckte sich eine idyllische Landschaft mit einladenden Plätzen zum Picknicken. Dann waren französische Töne zu hören: “Bonjour. Mon Dieu. Fantastique”. Edgar im Gespräch mit einem E-Mountainbiker. Der sagte, dass er 88 Jahre alt sei. Wir fühlten uns plötzlich sehr jung und voller Tatendrang für die nächsten Jahrzehnte.
Weiter ging es bis hinunter zur N 94. Im Westen schob sich die Festung von Briancon, Frankreichs höchstgelegener Stadt (1326 m) ins Blickfeld. Sébastien Le Prestre de Vauban (1633 – 1707), seines Zeichens Festungsbauexperte des Sonnenkönigs, ließ die Bastion um 1700 erbauen. Doch wir wollten nicht diese Festung erstürmen, sondern den Col du Montgenèvre, der in anderer Richtung auf uns wartete. Die Straße, auf der wir nun unterwegs waren, ist seit der Römerzeit eine der Hauptverbindungen zwischen Frankreich und Italien, entsprechend stark war der Verkehr. Doch so schlimm wie sonntags am Kesselberg war’s nun auch wieder nicht, außerdem war die Straße gut asphaltiert und schön breit. Bei – bis auf das letzte Stück – moderater und gleichmäßiger Steigung erreichten wir die Passhöhe, die mitten in Montgenèvre liegt. In diesem eher sterilen Skiort stärkten wir uns in einer Bar mit Drinks und Snacks, dann ging es wieder auf den Sattel, diesmal in Richtung Colle del Sestriere (2033 m), nach dem Nivolet der zweite Zweitausender, den wir bei unserer Piemont-Tour in Angriff nahmen. Michi hatte hier klugerweise die nahezu verkehrsfreie alternative Westauffahrt von Cesana Torinese gewählt. Und so ging es sehr entspannt über 13,5 km und 689 hm entlang des Ripa-Gebirgsbaches nach Sestriere. Keine große Sache, doch bei Temperaturen von über 30 Grad waren die Akkus und Flaschen bald leer, und so kam der Brunnen mit seinem kühlen Quellwasser hinterm Radsportdenkmal an der Passhöhe gerade recht.
Sestriere ist in all seiner Hässlichkeit schon ein Hingucker. Dies also ist einer der bekanntesten italienischen Wintersportorte, der als Austragungsort der alpinen Skiwettbewerbe bei den Olympischen Spielen 2006 von Turin weltweit bekannt wurde. Die Tradition als Wintersportort reicht zurück bis in die 1930er Jahre, als Fiat-Gründer Giovanni Agnelli in Sestriere zwei Hotels und zwei Seilbahnen bauen ließ. Aber Jahre zuvor hatte sich Sestriere im professionellen Radsport einen Namen gemacht. 1911 führte die dritte Austragung des Giro d’Italia auf der fünften Etappe erstmals über Sestriere. Die Tradition ist ungebrochen: 2025 ging die 20. Etappe des Giro in Sestriere zu Ende. Ins Programm der Tour de France kam Sestriere erstmals 1952. Und im Jahr 2024 führte die Tour de France im Rahmen der vierten Etappe erneut über Sestriere.Mit seinen gesichtslosen Hotelklötzen ist Sestriere so hässlich wie erwartet. Allerdings hat der Ort auch was, wirkte irgendwie sympathisch. So herrschte hier oben bei unserer Ankunft reges Leben. Offenbar hat es auch dieser künstlich geschaffene Wintersportort geschafft, mit entsprechenden Outdoor-Angeboten Sommertouristen anzulocken. Heute waren zudem viele Leute da, um den Nachwuchsradlern eines Amateurrennens zuzujubeln. Bevor diese allerdings oben am Colle del Sestriere ankamen, waren wir schon wieder auf dem Weg nach unten und erreichten schließlich (Anm. d. Red.: bei heftigen Gegensturm) wieder Oulx, Start und Ziel dieser schönen Rundfahrt durchs sagenhafte Okzitanien.
Am Ende hatten wir viel Gesprächsstoff fürs Abendessen in unserer Lieblings-Pizzeria La Ruota. Und am letzten Abend durften wir dann endlich auch guten Gewissens ein paar Bier trinken. “Salute!” Auf bald im Piemont – denn eine Rechnung haben wir noch offen: den Colle delle Finestre.
Sehr schöne Gegend, kenne ich von meinem Trip im Juni. Ich bewundere eure Fahrt (mit dem Rad!) über den Col de Montgenevre, mir war das echt zu viel Verkehr. Aber der französiche Teil vom Col de l’Echelle ist ein Traum.