Michi hat mir mal ein Buch geschenkt. Es heißt „Bergwertung“. Darin werden besonders schöne Pässe für Rennradler beschrieben. Im Kapitel über den Albulapass taucht der Brite Charles Freeston auf. Der radsportbegeisterte Redakteur verfasste anno 1900 das bahnbrechende Buch „Cycling in The Alps“. Dass Engadin hielt Freeston für das Paradies aller „Radmänner“. Recht hat der Mann! Zahlreiche Pässe beginnen und enden im fast 100 Kilometer langen Gürtel des Engadin, darunter auch solche, die über 2000 Meter liegen. Damit es zumindest noch den Hauch einer Chance gibt, das Projekt 2020 zu packen, habe ich mich eher spontan auf den Weg in den Süden gemacht.
Radeln im Engadin
Im Engadin bieten sich wunderbare Rundtouren an. Allerdings braucht man dafür Zeit, und die hatte ich nicht. Mein Ziel war es, an zwei Tagen sechs 2000er Pässe zu fahren, das wäre bei Rundkursen kaum machbar gewesen. Zudem war der Tunnel zwischen der Ofenpassstraße und Livigno geschlossen (Für Rennradler ist er bereits seit Jahren nicht befahrbar, sie müssen auf einen Shuttle-Bus umsteigen, aber selbst der verkehrte aufgrund der Tunnelschließung nicht). Also habe ich mich für die Rauf & Runter-Variante entschieden: Hoch auf den Pass, Selfie, und wieder zurück ins Tal. „Tal“ ist im Engadin übrigens ein relativer Begriff, denn die Täler liegen hier ziemlich hoch (St. Moritz z.B. auf 1822 m). Entsprechend bequem kommt man hier auch auf Pässe, die über 2000 m liegen. Und das vorweg: Es macht richtig Spaß, sich dauernd in diesen Höhen zu bewegen. Die Luft ist schön frisch und immer eröffnen sich wunderbare Ausblicke auf die Bergwelt.
Donnerstag, 19.9.2019: Bernina, Forcola di Livigno, Albula
Abfahrt um 5 Uhr in Pullach, Ankunft um 8.30 Uhr in Pontresina. Der sympathische Ort liegt nördlich von St. Moritz an der Auffahrt zum Berninapass und ist der ideale Ausgangspunkt für eine Engadiner Radsafari. Viele namhafte Pässe sind von dort aus bequem zu erreichen.
Ich quartiere mich im Sporthotel Pontresina ein, und das gefällt mir richtig gut. Schön entspannt, unkomplizierter Service, sogar ein kostenloser Wäscheservice für Sportklamotten (das Zeug bis 20 Uhr in den Wäschesack, morgens um 8 Uhr ist alles frisch gewaschen). Problem: Das Hotelzimmer ist gemütlich und warm, und draußen sind es 5 Grad. Bis 10 Uhr zögere ich den Start hinaus, dann fällt mir keine Ausrede mehr ein und so geht es hoch in Richtung Bernina-Pass. Leider ist die Straße stark befahren. Selten habe ich Lastwagen auf einer Landstraße so schnell fahren sehen, wie hier. Außerdem trainieren Oldtimerfans für eine Rallye am Wochenende: Porsche, Ferrari, Maserati; alles, was Klang und Namen hat, röhrt durchs Bergidyll.
Durch locker bewaldetes Gebiet führt die Steigung moderat bergan. Die Sonne hat den Hochnebel längst verscheucht, und so habe ich einen freien Blick auf den in der Sonne glitzernden Morteratschgletscher. Wie alle Alpengletscher schwindet er dahin, verkürzte sich zwischen 1900 und 2017 um etwa 2500 Meter – fotogen ist er trotzdem.
Die Straße ist jetzt fast eben und führt durch eine Landschaft, die immer karger wird. Farbtupfer bilden lediglich ein paar kleine tiefblaue Seen und die knallrote Berninabahn, die sich harmonisch durch die Gebirgswelt zieht. Ich passiere die Seilbahn zum Skigebiet Diavolezza. Das letzte Mal bin ich dort vor 39 Jahren zum Skifahren hoch, mit 18. Weiter zum Ospizio Bernina, von dort sind es noch 700 Meter zum Pass.
In weiten Kehren führt der Weg über 3 Kilometer die Südrampe des Berninapasses hinunter bis zur Schweizer Zollkontrollstelle. Von dort geht es hoch zum Forcola di Livigno. Da der Ausgangspunkt des Passes schon auf über 2000 m liegt, sollte das eigentlich kein Problem sein – leider machte mir ein gemeiner Gegenwind einen Strich durch die Rechnung. Durch die schroffe Feldlandschaft geht es bergan, zuerst sanft, dann zieht die Steigung in zweistellige Bereiche an, bis die triste Passhöhe samt verlassenen italienischem Grenzposten erreicht ist.
Wieder runter und dann die Ostrampe des Berninapasses hinauf. Suppe am Pass, ab ins Tal und hinüber zum Albulapass. In Serpentinen geht es vom Ort La Punt aus hinauf, sodass man schnell an Höhe gewinnt. Nach rund 4 Kilometern lässt die Steigung nach, dafür kommt wieder ein brutaler Gegenwind auf und begleitet mich bis zur Passhöhe. Für die bizarre Landschaft habe ich keinen Blick mehr. Nix wie zurück nach La Punt und von dort (nach Kaffee und Kuchen im Gasthof Krone) auf direktem Weg nach Pontresina.
Freitag, 20.9.2019: Maloja, Julier, Flüela, Ofenpass
Traumwetter. Keine Wolke am Himmel. Und das soll sich den ganzen Tag nicht ändern. Allerdings anfangs wieder nur 5 Grad. Mit dem Auto fahre ich zu einem Parkplatz im Örtchen Sils, das eingerahmt von den mächtigen Gipfeln der Bernina-Gruppe und umgeben von Blumenwiesen am Eingang zum Fextal schlummert. Als einer der ersten kam Friedrich Nietzsche hierhin. Der Philosoph (an den ein kleines Museum erinnert) schätzte Sils als „lieblichsten Winkel der Erde“. Auch Hermann Hesse war dort Stammgast, ebenso wie Max Frisch, Thomas Mann oder Kurt Tucholsky, die am liebsten im mondänen „Waldhaus Sils“ logierten, das noch heute Gäste empfängt und wie eine märchenhafte Burg auf einem bewaldeten Hügel hoch über dem Silser See thront.
Vor dieser bezaubernden Kulisse, gewärmt von den Sonnenstrahlen rolle ich gemütlich zum Malojapass, der das Oberengadin mit dem Bergell verbindet. Das Passschild liegt mitten im Ort Maloja, doch ich übersehe es und verirre mich auf ein paar frühnebelverhangene Serpentinen hinunter ins Bergell. Fast immer am See entlang führt der Weg dann nach Silvaplana und von dort hinauf zum Julierpass. Zuerst müssen 250 hm auf vier langgezogenen Kehren bewältigt werden, dann hat man aber schon den härtesten Teil hinter sich, denn zum kargen Pass sind es insgesamt nur 469 hm. Mit nahezu durchgehend 6 % Steigung geht es anschließend auf fast schnurgerader Strecke zum Pass, vorbei an Hochalpenwiesen, in denen immer wieder der Pfiff eines Murmeltieres zu hören ist – und zwei Jäger geschossene Hasen an den Ohren durch die Pampa tragen (wirklich!). Passfoto, und wieder runter zum Auto.
Dann mit dem Wagen bis nach Susch, dem Ausgangspunkt für die Ostanfahrt des Flüelapasses. Die Straße, die durchweg gut ausgebaut und in einem hervorragenden Zustand ist, gewinnt in mehreren Kehren und Steigungen bis 9 % schnell an Höhe. Nach 4 etwas anspruchsvolleren Kilometern folgt ein etwa 2 km langes flacheres Stück, danach zieht die Steigung wieder an. Mit durchschnittlich 8 % schlängelt sich die Straße durch ein karges Hochtal mit faszinierender Gebirgslandschaft. Schließlich kommt der Pass samt zwei kleiner Bergseen und dem einladenden Hospiz in Sicht. Aber es gilt keine Zeit zu verlieren, denn der Ofenpass wartet noch. Also wieder hinunter nach Susch und von dort mit dem Auto nach Zernez, wo die Westanfahrt zum Ofenpass startet – und die habe ich leicht unterschätzt. Bei quäldich.de hatte ich gelesen, dass am Ofenpass gemütliches Rumrollen durch liebliche Nadelwälder angesagt ist – nur das mit den Nadelwäldern stimmte, und kein Ort auf 22 km.
Ein erstes Ausrufezeichen setzt die Steigung bis zum Vorpass Ova Spin. Dann eine 5 km lange Abfahrt, die am Abbieger zum (wie gesagt: geschlossenen) Livigno-Tunnel endet. Leichte Panik: Nun sind es immer noch 10 km bis zum Pass und die Sonne hat sich schon hinter die Berge verzogen. Irgendwie erreiche ich den Pass noch und bolze dann die letzten 22 Kilometer des Tages zurück zum Auto. Sitzheizung auf Stufe 3, dann auf vier Rädern mit Vollgas erneut über Ofenpass bis ins Hotel Grüner Baum nach Glurns in Südtirol. Spinatknödel, Forst-Bier und zwei wunderbare Tage in schönster Natur im Sinn – so schön kann die Welt sein.
Pass-Statistik
Auffahrt: Nordwestrampe von Schlarigna
Höhe: 2330
Hm: 600
Km: 20
Forcola di Livigno
Auffahrt: Südanfahrt von La Motta (Berninapassstraße)
Höhe: 2315
Hm: 261
Km: 3,5
Albula
Auffahrt: Ostanfahrt von La Punt
Höhe: 2315
Hm: 654
Km: 9,1
Auffahrt: Ostanrollen von Silvaplana
Höhe: 1815
Hm: 87
Km: 11,5
Julier
Auffahrt: Südrampe von Silvaplana
Höhe: 2284
Hm: 469
Km: 7
Flüela
Auffahrt: Ostanfahrt von Susch
Höhe: 2383
Hm: 950
Km: 13,2
Ofenpass
Auffahrt: Westanfahrt von Zernez
Höhe: 2149
Hm: 800
Km: 22
Servus Andreas,
das war die maximale Ausbeute! Mehr namhafte Pässe geht in 2 Tagen nicht. Respekt!
Ich muss doch mal wieder ins Engadin. Früher war ich oft beim Bergsteigen hier aber radln noch nicht.
VG
Willi