Seit Jahren fahren wir immer wieder zum Rennradfahren nach Italien und haben dort schon einige Regionen abgegrast: Apulien, Südtirol, Piemont, Umbrien, Cilento, Marken, Toskana, Veneto… Nach den großartigen Erzählungen von Michi wollten wir uns dann mal die südliche Provence anschauen. Das war 2020 und dann kam Corona. Somit konnten wir unsere Pläne erst im September 2022 umsetzen.
Auf Empfehlung von Michi haben wir Tourrettes-sur-Loup als Standort ausgewählt. Die Quartierbuchung war trotz vier Monaten Vorlauf und obwohl wir dachten es sei Nachsaison nicht ganz einfach. Mit viel Glück haben wir aber ein super Quartier gefunden: Das Terre d’Orizon. Im Mai von einem Schweizer Paar neu eröffnet, komplett und hochwertig renoviert, tolle Lage, Pool, nur vier Studios, die perfekt ausgestattet sind mit kleiner Küche, Spülmaschine, Mikrowelle, Kaffeemaschine… Man kann einen leckeren Frühstückskorb ordern und braucht damit morgens nicht zum Bäcker fahren. So beginnt der Tag stressfrei. Das Beste am Terre d’Orizon sind aber die netten Besitzer: Super hilfsbereit bei Restaurantempfehlungen und Reservierungen, Badestrandsuche, Besichtigungen, etc. Fahren auch selbst Rennrad und kennen sich in der Gegend gut aus. Für die Räder gibt es einen absperrbaren Raum. Uns hat es so gut gefallen, dass wir für nächstes Jahr schon wieder gebucht haben.
Nachdem meine Frau Claudia kein „Trainingslager“ wollte, haben wir uns darauf geeinigt abwechselnd einen Tag Rad zu fahren und einen Tag mit Besichtigungen, Wanderungen, etc zu verbringen. In der Gegend gibt es wirklich jede Menge zum Anschauen: Schöne Städtchen, Galerien, Museen, Strand, Natur (Verdonschlucht!) und vieles mehr.
Unsere erste Radtour führte uns über Vence auf den Col de Vence, der leider nicht in Michis Passliste auftaucht, da er trotz fast 700Hm Anstieg nur 963m hoch ist. Das ist ein typischer Anstieg für diese Gegend mit moderater gleichmäßiger Steigung, die selten zweistellig wird, tollem Straßenbelag, wechselnden Landschaften und wenigen, meist rücksichtsvollen Autofahren. Der Col de Vence spielt übrigens in dem Film „The Climb“ von 2019 eine wichtige und namensgebende Rolle. Nach der im oberen Teil eher kahlen Passsüdseite geht es auf der Nordseite landschaftlich beeindruckend durch Wälder und Wiesen an Coursegoules vorbei Richtung Gréolieres runter. Vor dem Ort zweigt man an einem Kreisel links ab und es beginnt die Abfahrt durch die Gorges (Schlucht) du Loup. Der namensgebende Fluss ist eines der Gewässer in Europa mit dem stärksten durchschnittlichen Gefälle. Er entspringt in ca. 1310m Höhe und mündet bereits nach nur 49km ins Meer. Die Straße in der Schlucht führt durch 3 Tunnel (2 kürzere, 1 längerer beleuchteter), die mit einem kleinen Rücklicht gut zu durchfahren sind. Die Felswände ragen senkrecht auf und man sieht den Himmel teilweise nur als schmales blaues Band weit oben. Unten rauscht normalerweise der Loup und von der Seite Wasserfälle, wegen der Trockenheit aber leider nur mit wenig Wasser in diesem Sommer. Am Ende der Schlucht trifft man in Pont du Loup auf die Straße die Grasse und Tourrettes verbindet. Wir halten uns links und müssen bis zu unserem Quartier noch ca. 250 Hm auf relativ flacher Straße überwinden. Eine schöne Einfahrtour mit in der Summe dann ca. 48km und 900Hm.
Die dritte Tour führte uns diesmal zuerst bergab nach Pont du Loup und dann bergauf durch die Gorges du Loup. Nach der Schlucht biegen wir links ab Richtung Gourdon. Das wunderschöne Städtchen, mit grandioser Aussicht auf die Cote d’Azur, erreicht man auf einem perfekten Anstieg relativ schnell. Nachdem man mit den Radschuhen nicht so gut zu Fuß ist, war das an einem anderen Tag Ziel eines unserer Ausflüge mit dem Auto. In Gourdon biegt man rechts ab und es geht durch eine immer kahler werdende Landschaft rauf zum Col de l’Ecre mit 1120m. Das waren dann ca. 900Hm am Stück. Nach dem Pass fährt man auf einer grünen mongoleiartigen Hochebene weiter nach Caussols. Kurz nach Caussols überfährt man einen namenlosen Übergang, der sogar nochmal 30m höher ist als der Col de l’Ecre. Nach ein paar Kilometern wenden wir uns dann nach Süden und nehmen den Col du Ferrier im Vorbeifahren mit. Das ist laut Michis Pässeliste der südlichste Alpen-Übergang, der die Kriterien als Pass erfüllt. Jetzt geht es auf sehr guter Straße runter nach Saint-Vallier-de-Thiery, dann kurz wieder bergauf und an einem großen Gefängnisareal vorbei runter nach Grasse und links Richtung Tourrettes. Nach Châteauneuf verlassen wir die D2210 und fahren ein paar Kilometer auf der ehemaligen Eisenbahntrasse, die jetzt asphaltiert ist. Die alte Eisenbahnstrecke führt über einige hohe Brücken mit toller Aussicht und durch kleine Tunnel. Sehr interessant, aber leider ist der Belag relativ holperig und nicht unbedingt Rennrad tauglich. Ab 30km/h fallen einem die Zahnplomben raus. In Pont du Loup treffen wir wieder auf unsere Strecke vom Anfang und nach weiteren 12 Kilometern sind wir wieder in unserer Unterkunft. In der Summe kamen wir heute auf 78km mit ca. 1350Hm.
Die vierte Tour war etwas Besonderes: Zwei Schluchten mit einem ordentlichen Pass dazwischen. Dazu mussten wir aber zuerst mit dem Auto das Vartal bis Touet-sur-Var hochfahren. Das sind ca. 50km. Einen Kilometer nach Touet mündet von rechts die Gorges du Cians in das Vartal ein. Auf einem kleinen Parkplatz machten wir uns fertig und fahren aber nicht rechts, sondern folgen der Var. Die ersten 15 Kilometer sind nicht so toll, da die Straße relativ stark befahren ist und auch landschaftlich wenig bietet. Besonders ab Valcros, nachdem man die Flussseite gewechselt hat, geht es ein paar Kilometer schnurgerade zwischen Betonleitplanken leicht bergauf. Die eintönige Fahrt wird aber bald durch einen beeindruckenden Blick auf die weit oben thronende Citadelle d’Entrevaux verkürzt. Man könnte sich diesen Streckenabschnitt vermutlich auch sparen und den Zug von Touet bis Entrevaux nehmen. Ab Entrevaux wird der Verkehr weniger und die Landschaft schöner.
Nach weiteren 5 Kilometern folgen wir rechts dem Vartal und lassen den restlichen Verkehr hinter uns. Jetzt beginnt ein grandioser Teil durch die Gorges de Daluis. Das Tal wird immer enger und die Straße steigt langsam steiler an. Nach ca. 8 km geht es dann richtig los. Hier kommt von rechts eine Straße von Saint-Léger herunter. Diese Variante kann man u.U. auch von Valcros aus nehmen, aber die Informationen ob diese Straße durchgehend rennradtauglich ist, sind widersprüchlich. Unsere Strecke durch die Gorges de Daluis wird immer beeindruckender! Die Farbe der Felsen wechselt von grau zu dunklem ziegelrot, wir gewinnen deutlich an Höhe gegenüber der Var und die Schlucht wird enger und tiefer. Es folgen einige kurze, mit Rücklicht gut zu fahrende Tunnel, wobei teilweise die beiden Fahrspuren getrennt sind. Unsere talseitige Spur führt mit abenteuerlichen Tiefblicken am Hang entlang und die bergseitige Spur verläuft im Tunnel. Das solltet ihr euch mal mit Google Streetview anschauen! Deshalb sollte man diese Tour nicht in Gegenrichtung fahren. Kurz vor dem Ende kann man rechts auf die Pont de la Marie gehen und den Tiefblick in die Schlucht genießen. Oberhalb gibt es einen über Stahltreppen zu erreichenden Aussichtspunkt, der aber nicht Rennradschuhtauglich ist. Wir fahren abwärts auf der Hauptstraße weiter nach Guillaumes zum Mittagessen.
Gut gestärkt beginnt jetzt der Anstieg zum Col de Valberg. Wir nehmen die alte nördlichere Straße über Péone, die landschaftlich wesentlich schöner ist als die neue südlichere Straße. Die Strecke folgt linksseitig der Le Tuébi bis Péone. Dieser Abschnitt kann in der prallen Sonne und bei bis zu 10% Steigung durchaus anstrengend werden. Das kommt auch daher, dass man die Steigung optisch nicht wahrnimmt, da das Flussbett parallel dazu ansteigt. Wenn man Pèone zum ersten Mal sieht, ist man von der Lage und Schönheit dieses kleinen Dorfes beeindruckt. Im Ort gibt es einen kleinen Brunnen zum Wasser nachfüllen. Nach dem Ort wendet sich die Straße nach Osten und wird flacher. Zunächst ist nicht ersichtlich, wie die Straße weitergeht denn sie führt gerade auf den Talschluss zu. Wenn man aber den Kopf stark in den Nacken legt und rechts den steilen Waldhang raufschaut, kann man den weiteren Verlauf erahnen. Dieser nun folgende Streckenabschnitt mit vielen Kehren ist mit das Beste was ich bisher mit dem Rennrad raufgefahren bin: Die glatte Straße folgt perfekt dem Gelände, die Kehren schmiegen sich harmonisch in den Hang, die Steigung beträgt 6-8% und man hat immer wieder großartige Ausblicke. Nach dieser Kehrengruppe verlässt man teilweise den Wald und glaubt sich irgendwo im Allgäu mit grünen Wiesen und Kühen. Die Straße schraubt sich landschaftlich beeindruckend weiter nach oben und nach über 800Hm von Guillaumes aus erreicht man Valberg mit 1673m.
Es gibt kein Passschild und wie viele Wintersportorte ist Valberg in Sommer nicht so einladend, zumal diesmal auch noch eine größere Straßenbaustelle im Ort anzutreffen war. Nach einem Kaffee geht es jetzt praktisch nur noch bergab bis zum Auto. Über Beuil fahren wir in die Gorges du Cians ein. Diese Schluchtenstraße ist stärker ausgebaut als unsere Auffahrt durch die Gorges de Daluis, aber für die Abfahrt bestens geeignet. Einige Tunnel kann man auf der alten Straße umfahren und die beeindruckende Schlucht bewundern. Teilweise haben die Felsen über einem nur ein paar Meter Abstand und Schmetterlinge schwirren umher. Der Fels ist wieder rot gefärbt und man glaubt sich irgendwo in Amerika oder auf dem Mars. Nach der oberen Schlucht folgt eine kurze Kehrenpassage bis es in der unteren Schlucht ähnlich weitergeht. Langsam sieht man auch wieder spärlich wachsende Pflanzen an den Felshängen, deren Grün einen interessanten Kontrast zum Felsen bildet. Und nach ca. 84km und 1400Hm sind wir wieder am Auto. Eine sehr beindruckende Tour!
Unsere (leider) letzte Tour führte uns wieder die Gorges de Loup rauf und einsam über Cipières nach Gréolières und von da über den Col de Vence (zum Dritten!) nach Vence zurück. Nochmal 60km mit 1100Hm.
Dann mussten wir leider wieder nach Hause, aber wir kommen wieder, denn es gibt noch viel zu entdecken!