Jetzt warte ich auf meinen Rückflug nach München. Und das Warten ist die Werkstatt des Geschichtenerzählens.
Die Rückkehr markiert das Ende einer Reise. Die Rückkehr eröffnet die Zeit für eine Bestandsaufnahme. Die Rückkehr ruft Erinnerungen wach und festigt sie. Was bleibt? Was bleibt, ist die Erinnerung an eine dichte, in der Schwebe gehaltene Zeit, die in ihrer Wahrnehmung gedehnt wird. Was bleibt, ist dasselbe Gefühl, das ein Buch, das einen fesselt und in seinen Bann zieht, hinterlässt. Das ist das gleiche Gefühl, das ich bei der Durchquerung der Pyrenäen vom Mittelmeer zum Atlantik hatte. Wenn man merkt, dass das Ende naht, dann versucht man, langsamer zu werden. Das habe ich auf dem letzten Pass, dem Col de Saint Ignace, nur zehn Kilometer vor dem Atlantik, versucht. Und jetzt, wo ich hier auf dem Flughafen von Barcelona sitze und in meinem Notizbuch eine Liste der bestiegenen Pässe anfertige und die Fotos betrachte, ist der Wunsch, in die Pyrenäen zurückzukehren, eindringlich. Wie der Wunsch, das Buch, das man gerade beendet hat, noch einmal zu lesen.
Von diesen Zeilen ging die Inspiration aus, die Durchquerung im Selbstversorgerstil zu unternehmen. „Die Durchquerung der Pyrenäen vom Mittelmeer bis zum Atlantik ist ein Traum vieler Rennradler“. Das ist wahr! Die Durchquerung hat die Dimension eines Traums.
Es gibt zwei Meere, die durch Gebirgsketten getrennt sind. Eine Orogenese liegt dieser Trennung zugrunde. Wenn man nur daran denkt, tut sich der Abgrund der Zeit unerbittlich auf. Die Route des Cols ist der fil rouge, der die beiden Meere miteinander verbindet. Sie verläuft größtenteils auf französischem Gebiet entlang der östlichen Pyrenäen. Aus logistischen Gründen erreichte ich den Flughafen von Barcelona mit einem Direktflug aus München. Ich bestieg mein Fahrrad und ließ meine Scicon-Hartschalentasche im Gepäcklager des Terminals 1. Ich fuhr durch die anonymen Vororte Barcelonas, erreichte die belebte Strandpromenade und folgte ihr. Und dann in Richtung Tossa del Mar, wie Michael mir vorgeschlagen hatte.
Banylus-sur-Mer ist der Ausgangspunkt für diejenigen, die die Route des Cols vom Mittelmeer zum Atlantik fahren wollen. Die Straße von Tossa de Mar nach Banylus-sur-Mer folgt der felsigen Küstenlinie mit angenehmen Auf- und Abstiegen am Rande des Abgrunds und überquert die Grenze. Der Blick auf das Meer lässt keinen Raum für die Fantasie: ein Teppich aus blau schimmernden Strukturen, durchzogen von weißen Segeln. Der Blick verliert sich. Die entwaffnende Schönheit der Landschaft scheint jeden Pedaltritt mit Bedeutung aufzuladen. Es ist ein Rausch.
Jede Etappe der Route des Cols ist von einem eigenen Geheimnis umhüllt. Sie lässt die Linie nur erahnen, die sich erst ein paar Kehren vor der Passhöhe offenbart. Das Ritual des Tages findet bald einen freudigen Rhythmus, wenn man dem fil rouge folgt. Die Einsamkeit, die herrlichen Pässe wie den Col de Palomère, den Col de Paihères, den Col de Core oder den Port de Balès durchquert, findet auf dem Col de Tourmalet eine Unterbrechung. Auch hier habe ich keine Bergkameraden, aber in der entgegengesetzten Richtung sausen Hunderte von Radfahrern bergab. Ich bin nicht der letzte Radfahrer in den Pyrenäen.

Am Morgen der letzten Etappe prasselt der Regen auf das Dachfenster des Zimmers im Montory. Ich gehe mit der Regenjacke, die ich den ganzen Tag tragen werde. Ich fahre nach Larrau. Der Col de Bagargui ist unerwartet hart. Ich komme schweißgebadet und vom Regen durchnässt auf dem Plateau an. Ich kann nur vermuten, dass es eine schöne Hochebene ist. Ein dichter Nebel umhüllt alles und lässt die Landschaft märchenhaft erscheinen. Dann die Überraschung. Plötzlich sehe ich wie aus dem Nichts eine lange Reihe von Radfahrern in der Gegenrichtung auftauchen. Ich bin nicht mehr der einzige Radfahrer in den Pyrenäen.
Es sind Radfahrer, die an der IRATI XTREM teilnehmen, die in Ostagabia beginnt und endet und auf einem Ring zwischen Spanien und Frankreich verläuft. Wir grüßen uns, beide überrascht. Im Tal lässt der Regen nach, aber die atlantischen Wolken sind immer noch dicht. Ich halte am Col de Saint Ignace, nur zehn Kilometer vom Atlantik entfernt. Der Atlantik bleibt verborgen. Also hinunter nach Saint-Jean-de-Luz.Am Kreisverkehr zeigt das Schild La Grande Plage an. Der fil rouge endet hier. Ich steige ab, lehne mein Fahrrad an die Steinmauer und schaue auf das Meer.
Chapeau! Was für ein mutiges, willensstarkes, abenteuerliches Projekt! Danke für den angenehm unprätentiösen und inspirierenden Bericht.
Danke Andreas! Ja, es war abenteuerlich. Von Sant-Jean-de-Luz nach Barcelona habe ich teilweise regionale Züge benutzt und bin ich auch gefahren..
Albertano, wenn ich Deutschlehrer wäre, gäbe es für diesen “Aufsatz” eine 1+ mit Stern.
Und für die geglückte Transpyrenäen natürlich *****
Vielleicht kannst noch irgendwann die gefahrene Route posten. Würde mich brennend interessieren
Danke Edi! Ja klar, ich kann gerne mehr Details geben, bzw. Routen, Hotels etc.
Ciao Albertano,
Kompliment! Klasse Radreise, toller Bericht und super Fotos!
Das ist Rennradfahren 🙂
LG
Willi
Danke Willi! Das freut mich!
Albertano, du solltest Schriftsteller werden. So ein schöner Bericht.
Da möchte man gleich losfahren.
Ich hoffe, dass dieses Abenteuer viele inspiriert und wir nächstes Jahr auch endlich die Pyrenäen-Durchquerung in Angriff nehmen.
Danke Michael! Du hast mich die Inspiration für die Reise gegeben und Du hast den perfekten Titel des Berichts gefunden!